Der Begriff 'Rasse' in der Humangenetik – wie Bildung Rassismus vorbeugen kann

Forschende plädieren in einem Artikel der Fachzeitschrift Science für eine stärkere Berücksichtigung gesellschaftspolitischer Faktoren innerhalb der Humangenetik. Prof. Dr. Ute Harms, Leiterin der Abteilung Didaktik der Biologie am IPN, ist Mitglied der Autor:innengruppe und erläutert im Interview die Empfehlungen.

Was macht die Humangenetik zu einem gesellschaftspolitisch so relevanten Thema?

Als Biolog:innen und natürlich auch als Biologiedidaktiker:innen betrachten wir die Thematik des Rassismus aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive. Das ist zunächst einmal notwendig und auch richtig. Gesellschaftspolitisch ist die Kategorie und der Begriff der 'Rasse' problematisch. Rasse bzw. Rassismus ist etwas, das grundsätzlich abzulehnen ist und in der Vergangenheit sowie heute viel Ungutes in die Welt gebracht hat und auch heute noch bringt.

Portraitfoto von Prof. Dr. Ute Harms

Und auch biologisch, genetisch ist das Konzept der Rasse nicht haltbar, nicht anwendbar auf den Menschen. Wir, die Autor:innengruppe, die diesen Artikel verfasst hat, sind der Meinung, dass diese Problematik in der Hochschullehre zu wenig deutlich gemacht wird. Das wiederum kann natürlich zu Problemen führen, wenn die nächsten Generationen von Wissenschaftler:innen diese Aspekte nicht von vornherein mit berücksichtigen und vermittelt bekommen.


Sie geben daher im Verlauf des Artikels konkrete Handlungsempfehlungen, wie lautet eine wesentliche?

Eine der Empfehlungen fokussiert sich darauf, auch die sozialen und politischen Aspekte mit in den Blick zu nehmen und nicht bei den genetischen Grundlagen stehen zu bleiben. Im Prinzip steckt darin eine Problematik, die Dürrenmatt bereits in seinen Physikern angesprochen hat. Was liegt in der Verantwortung der Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler? Vermittelt man das mit oder konzentriert man sich ausschließlich auf das naturwissenschaftliche Wissen, das man vermittelt?

In diesem Zusammenhang ist es relevant, deutlich zu machen, dass auch die ökonomischen und die sozialen Verhältnisse wichtig sind für das, was sich, veranlagt durch die genetischen Prädispositionen, letztlich individuell bei einer Person entwickelt. Das lässt sich anhand eines Beispiels skizzieren: Wir wissen, dass Menschen, die in sozial und ökonomisch schwachen Verhältnissen leben, meist auch eine schlechtere Ernährungssituation haben. Das hängt damit zusammen, dass ungesündere Lebensmittel häufig die billigeren Lebensmittel sind. Das steht derzeit ja auch in der Diskussion, dass es eigentlich umgekehrt sein müsste. Der Diabetes Typ II beruht zwar auf einer genetischen Veranlagung, tritt aber vor allem bei Menschen auf, die sich kohlenhydratreich ernähren. Das heißt: Bei Menschen, die in ökonomisch schwachen Verhältnissen leben müssen, kann diese genetische Prädisposition eher zu einer Diabetes II Form führen als bei jemandem, der - platt gesagt - das Geld hat, sich besser zu ernähren. Dies zeigt in einem sehr einfachen Beispiel den Zusammenhang, der gemeint ist, zwischen Umwelt und Biologie bzw. zwischen sozioökonomischen Faktoren und der Genetik.

Und people of color leben aufgrund von Diskriminierung häufig in sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen…

Dazu muss man vielleicht auch noch einmal sagen: der Artikel ist natürlich sehr stark auf den US-amerikanischen Kontext bezogen. Da müssen wir vielleicht im europäischen oder im deutschen Kontext Abstriche machen bei den Aussagen, die dort getroffen werden. Aber die afroamerikanischen Menschen in den USA sind davon deutlich stärker betroffen und werden dann auch dort als 'Race' bezeichnet, was, wie gesagt, nicht haltbar ist. Da geht es dann nicht um etwas, das irgendwie mit der Biologie zu tun hat, was sozusagen in Anführungsstrichen 'gottgegeben' ist, sondern um etwas, das durch die ökonomischen und sozialen Verhältnisse entsteht, zum Teil politisch motiviert ist.

Der Artikel enthält Empfehlungen für den Genetikunterricht in der Sekundarstufe. An welcher Stelle sehen Sie konkret Ausbaupotenzial?

Also, wenn wir das jetzt mal auf Deutschland beziehen wollen, dann müsste man wahrscheinlich vor allem die Schulbücher betrachten. Wir sagen in unserem Artikel, dass die eben angesprochenen Aspekte insbesondere in den Materialien, die in der Lehre eingesetzt werden, stärker betont werden müssten. Für den deutschen Kontext würde ich sagen: Wir haben ja die Bildungsstandards, nach denen auch die Lehrpläne, wie sie früher hießen, heute nennen wir sie in Schleswig-Holstein Fachanforderungen, entwickelt werden. Dort gibt es von insgesamt vier Kompetenzbereichen zwei Kompetenzbereiche, die hier konkret zum Tragen kommen: die Erkenntnisgewinnung und die Bewertungskompetenz. In diesen Kontexten ließe sich die Problematik des Begriffs 'Rasse' beim Menschen eigentlich sehr schön unterbringen. Rasse wird hier richtigerweise als Begriff bei anderen Gruppen der Biologie eingeführt und verwendet, ist aber eben nicht auf den Menschen anwendbar und diese Problematik wird selten explizit und wenn, dann nur sehr unterschwellig angesprochen.

Welchen Reflexionsprozess regen Sie in diesem Zusammenhang an?

Portraitfoto von Prof. Dr. Ute Harms

Aus meiner Sicht wäre es wichtig, diese genetischen Entdeckungen und auch die, die letztlich zur Etablierung des Begriffs 'Rasse' geführt haben, in einen historischen Kontext zu setzen und diesen Kontext in den Biologieunterricht einzubringen.


In den 1990er Jahren wurde das Humane Genome Project durchgeführt, in dessen Rahmen das gesamte menschliche Genom untersucht und dechiffriert wurde. Damals sah man die DNA sozusagen eins zu eins als Blaupause für das, was sich im Menschen entwickelt. Heute sind wir weiter. Die Epigenetik zeigt, dass es nicht nur das reine Gen ist, das letztlich für die Ausprägung eines Merkmals verantwortlich ist. Ein gutes, aber auch sehr trauriges Beispiel dafür ist die große Hungersnot in den Niederlanden in den Jahren 1944 und 1945. In Folge und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs sind dort 20.000 Menschen in einem ganz kurzen Zeitraum verstorben, weil sie verhungert sind. Dieses Phänomen hat zu epigenetischen Veränderungen geführt, die auch noch die nachfolgenden Generationen beeinflusst haben.

Einen solchen historischen Kontext in den Unterricht mit einzubeziehen, ist das eine. Das andere ist, und das betrifft nur die Oberstufe, dass man sich im Unterricht auch einmal konkret mit genetischen Studien auseinandersetzt, die in der Wissenschaft durchgeführt werden. Das kann man als Lehrkraft selbstverständlich didaktisch reduzieren. Es geht vor allem darum zu zeigen, wo Anknüpfungspunkte wären, um soziopolitische Aspekte mit einzubringen und einen kritischen Blick auf Wissenschaft zu werfen - beides notwendig für die Erkenntnisgewinnungskompetenz, die wir unseren Schüler:innen vermitteln wollen. Meiner Auffassung nach ist das wissenschaftlich gesicherte Wissen, das beste Wissen, das wir haben. Aber nichtsdestotrotz muss man in dem Moment, in dem Wissenschaft gesellschaftspolitisch wirksam wird, auch andere Aspekte mit einbeziehen und sich als Wissenschaftler:in immer wieder selbst hinterfragen.

Science gilt neben Nature als die weltweit wichtigste Fachzeitschrift: Wie ist Ihr Artikel zustande gekommen?

Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Im Prinzip liegt der Ursprung etwa sieben oder acht Jahre zurück. Da hat sich eine kleine Gruppe von internationalen Bildungswissenschaftler:innen aus dem Bereich Science Education zusammengetan, die sich schon von Begegnungen auf großen Konferenzen kannten und auch schon vorher in kleineren Gruppen gemeinsam publiziert oder auch kleinere Forschungsprojekte gemeinsam durchgeführt hatten. Wir sind eine Gruppe von etwa dreizehn Personen aus den USA, Großbritannien, Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern. In dieser Gruppe haben wir uns irgendwann vorgenommen, uns in einer kleineren Gruppe von Expertinnen und Experten intensiver mit Genetikunterricht zu beschäftigen, weil wir das für so relevant halten. Wir haben das dann um Evolution erweitert und so bin ich auch dazu gekommen, weil Evolution mein Schwerpunkt ist. Die Idee war, uns einmal intensiver zu treffen, als es auf diesen großen Konferenzen möglich ist, zu diskutieren und uns gegenseitig die eigenen Arbeiten vorzustellen.

Das haben wir vor einigen Jahren in Genf begonnen. Dann hat eine Kollegin vom Weizmann-Institut in Israel das aufgegriffen und zwei Jahre später ein weiteres Treffen organisiert. Aber aus diesen Treffen ist noch kein gemeinsamer Artikel entstanden. Und dann kam die Corona-Zeit. Während dieser Zeit sollte die Tagung eigentlich hier am IPN in Kiel stattfinden, wir mussten sie dann natürlich digital durchführen. Vor zwei Jahren haben wir die zweieinhalbtägige Tagung dann vor Ort in Kiel nachgeholt. Es war eine sehr lebhafte Tagung, auf der wir insbesondere das Thema dieses Artikels lange diskutiert haben.

So ist die Idee entstanden, dass wir gemeinsam versuchen, einen Artikel zu schreiben. Dabei waren wir vielleicht ein bisschen ehrgeizig und haben gesagt: Wenn wir ein so wichtiges Thema behandeln, dann gehen wir an die international renommierteste Zeitschrift, nämlich Science. Eine US-Amerikanerin aus unserem Kreis hat sich dann dafür eingesetzt, dass der erste Aufschlag geschrieben wurde. Wir alle haben gemeinsam daran gearbeitet und immer wieder diskutiert, gerade auch die kritischen Punkte. Sie können sich vorstellen, man begibt sich mit so einem Thema auch ein bisschen auf Glatteis, obwohl wir alles sehr akkurat recherchiert haben. Letztendlich haben wir den Artikel eingereicht, der Chefredakteur fand das Thema sehr interessant, und nach einigen Rückmeldungen und Überarbeitungen gemeinsam mit ihm ist er jetzt endlich erschienen.

Ist ein Nachfolgeprojekt geplant?

Wir werden uns mit dieser Gruppe dieses Jahr im Juni in Karlstadt in Schweden treffen. Bei diesem ersten Artikel war es so, dass er fast zufällig aus der Diskussion heraus entstanden ist. Ich denke, wenn wir wieder ein interessantes Thema aus der Diskussion heraus entwickeln, dann kann am Ende davon wieder ein Artikel stehen. Vielleicht nicht so hochrangig, das passiert wahrscheinlich nur einmal im Leben, aber eine erneute Zusammenarbeit ist auf jeden Fall möglich.

Das Gespräch führte Mareike Müller-Krey.

Der Science-Artikel "The sociopolitical in human genetics education" sowie ein Beitrag des Deutschlandfunks zum Thema stehen unter „Weitere Informationen" kostenlos zur Verfügung.

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