Neue Professorin für Digitale Bildung am IPN
Zum 1. Mai 2024 wurde Frau Prof. Dr. Marlit Annalena Lindner auf die neu geschaffene W3-Professur für Digitale Bildung an das IPN und die Europa-Universität Flensburg (EUF) berufen. Im Fokus der Professur steht empirische Forschung zur Gestaltung effektiver digitaler Bildungsmedien und adaptiver Lehr-, Lern- und Testumgebungen. Ein methodischer Schwerpunkt liegt auf experimenteller Forschung und Prozessdatenanalysen. Arbeiten wird die Forschungsgruppe um Marlit Lindner standortübergreifend sowohl am IPN in Kiel als auch an der EUF in Flensburg. Am IPN wird sie als stellvertretende Abteilungsleitung gemeinsam mit ihrer Gruppe der Abteilung „Erziehungswissenschaft und Pädagogische Psychologie“ angehören.
Für Marlit Lindner bedeutet die Berufung auch eine teilweise Rückkehr an ihre alte Wirkungsstätte. Sie studierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Psychologie (Diplom) und promovierte dort 2016. Dabei war sie ab Juni 2011 am IPN tätig und forschte zu kognitiven und affektiv-motivationalen Effekten multimedialer Aufgabengestaltung, unmotiviertem Antwortverhalten in digitalen Tests und computerbasiertem Feedback. Ab 2019 leitete sie am IPN die von ihr im Leibniz SAW-Verfahren eingeworbene Leibniz-Junior Research Group COMET (Cognition and Motivation in Educational Testing). In dieser Zeit absolvierte sie zudem mehrere längere Forschungsaufenthalte am ETS in Princeton sowie an der University of California in Santa Barbara. Darüber hinaus ist sie seit vielen Jahren als Dozentin im Bereich der Prüfungsgestaltung in der hochschuldidaktischen Bildung tätig.
Im Dezember 2022 folgte Marlit Lindner einem Ruf auf eine W2-Professur an das Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und der Universität Tübingen. Dort leitete sie ab Dezember 2022 als Professorin für Digitalisierung und Bildung die gleichnamige Leibniz-Forschungsgruppe am IWM. Schließlich erhielt sie im Laufe kurzer Zeit drei Rufe auf attraktive W3-Professuren an der Universität Erfurt (Didaktik digitaler Lernumgebungen) und dem IWM und der Universität Tübingen (Bildungspsychologie) sowie den jetzt gefolgten Ruf des IPN und der EUF auf die Professur für Digitale Bildung.
Im Rahmen der Professur wird Marlit Lindner ihre bisherige Forschungsagenda weiterführen und mit den Potenzialen künstlicher Intelligenz im Bildungskontext verbinden. Wir haben sie im Interview zu möglichen inhaltlichen Schwerpunkten, geplanten Projekten und ihrer Rückkehr in den Norden befragt.
Die Professur ist auf das Thema „Digitale Bildung“ ausgelegt. Das ist ja grundsätzlich ein sehr weites Feld. Was steht für Sie im Fokus?
Ja, in der Tat gibt es unzählige Aspekte, die es zu entdecken und zu erforschen gilt. Digitale Bildung ist ein extrem dynamisches Feld mit viel Potenzial, das sich stetig im Licht des technischen Fortschritts weiter formieren muss. Die rasante Entwicklung generativer künstlicher Intelligenz (KI) in den letzten Jahren ermöglicht es beispielsweise, digitale Bildungstools in Zukunft individueller und interaktiver zu gestalten und so Mauern zu durchbrechen, die zuvor unüberwindbar schienen. Das schafft viele neue Anwendungspotenziale und damit auch neue wissenschaftliche Fragestellungen. Es ist eine wirklich spannende Zeit, um in diesem Feld tätig zu sein und das macht Lust auf die Zukunft.
Mich persönlich interessiert ganz besonders, wie digitale Lern- und Testumgebungen mit und ohne KI gestaltet werden können, damit sie möglichst lernwirksam und motivationsförderlich für die Lernenden sind. Diese Art der Forschung empfinde ich als bereichernd, da es durch einen klaren Anwendungsfokus möglich wird, direkte Implikationen der Forschung für die Praxis abzuleiten. An der Gestaltung digitaler Medien kann man natürlich wunderbar ansetzen, um gewonnene Erkenntnisse zu nutzen und digitale Umgebungen besser auf die Bedarfe von Lernenden und Lehrenden abzustimmen. Mir geht es dabei um eine anwendungsbezogene Grundlagenforschung, die psychologische Prozesse in den Blick nimmt. Im besten Fall sind damit verbundene Erkenntnisse einigermaßen generisch und sollten trotz rasanter technischer Fortschritte möglichst lange Bestand haben.
Um die Effekte der Gestaltung digitaler Medien besser zu verstehen, konzentriere ich mich mit meinem Team auf experimentelle Forschungssettings, in der eine systematische Variation von Designfaktoren digitaler Medien im Zentrum steht. Besonders aufschlussreich ist es, den Prozess der Interaktion von Lernenden mit digitalen Medien näher zu betrachten und beispielsweise Blickbewegungsmessungen und computergenerierte Prozessdaten dafür zu nutzen. Emotionale sowie motivationspsychologische Aspekte sind ebenfalls von großem Interesse und liefern spannende Erkenntnisse, die in der Praxis zu berücksichtigen sind. Gerade in einem technisch orientierten Feld sollte der Bedarf der Menschen im Fokus stehen und daher ist mir eine ganzheitliche Betrachtung der Wirkungen und Nebenwirkungen der Ausgestaltung und Nutzung digitaler Medien ein Anliegen.
Welche Themenschwerpunkte bearbeiten Sie im Rahmen Ihrer Professur?
Ganz allgemein liegt mein inhaltlicher Schwerpunkt im Bereich der Gestaltung von formativen und summativen Assessments in verschiedenen Kontexten. Kern meiner Forschung sind also Tests und ihre Rahmenbedingungen an Schulen, Hochschulen und im Bildungsmonitoring. Die Leistungsdiagnostik nimmt gerade in der adaptiven digitalen Bildung einen besonders hohen Stellenwert ein. Denn ohne valide und handlungsorientierte Erkenntnisse aus lernbegleitenden Tests lassen sich individuell zugeschnittene Lernumgebungen praktisch nicht gestalten.
Adaptivität setzt voraus, dass die Lehrkraft oder das digitale System einen konkreten Anhaltspunkt hat, welches Niveau für eine/n Lernenden anzustreben ist und wo individuelle Stärken und Schwächen liegen, was verstanden wurde und was nicht. Nur durch ein formatives, prozessorientiertes Assessment kann das volle Potenzial digitaler Medien für die Lernenden ausgeschöpft werden. Dabei geht es keinesfalls um eine fremdgesteuerte Überwachung von außen. Mir ist sehr wichtig, dass in erster Linie die Lernenden selbst von den generierten Daten und der Übung profitieren und die Kontrolle darüber behalten, wie sie mit den gewonnenen Erkenntnissen umgehen möchten.
Da Tests in der Tat bei vielen Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden unbeliebt sind, ist es vor diesem Hintergrund besonders interessant zu untersuchen, wie man die Bearbeitungsmotivation erhöhen und die Bearbeitung von Aufgaben zu einem bereichernden Erlebnis machen kann. Formative Tests sollten nicht mit Leistungsdruck und Kontrollverlust assoziiert sein, sondern als Lerngelegenheit durch motivationsförderliches und lernwirksames Feedback verstanden werden.
In diesem Zusammenhang steht auch unsere bisherige Forschung zu computerbasiertem Feedback, das für die Lernenden kognitiv, affektiv und motivational unterstützend wirken sollte. Dabei ist es eine Herausforderung, eine Balance zwischen fachlicher Rückmeldung und selbstwertfördernder Ermunterung zu finden, insbesondere wenn die Leistung objektiv nicht besonders gut ist. Digitale Feedbackschleifen können dabei in Zukunft durch KI bereichert werden, wodurch eine stärker auf das Individuum angepasste Reaktion möglich ist, in die auch situative Faktoren kurzfristig eingebunden werden können. Es bleiben allerdings viele Herausforderungen in diesem Feld, die in den kommenden Jahren zu lösen sein werden. Dazu soll unsere Forschung unmittelbar beitragen.
Gibt es schon konkrete Forschungsprojekte, die Sie planen?
Ich bringe so einige Pläne aus meinem bisherigen Forschungsprogramm am IWM in Tübingen mit und freue mich darauf, diese Ideen jetzt weiter zu entwickeln und in den Kontext der EUF und des IPN einzubinden. Laufende Projekte zum multimedialen Testdesign, computerbasiertem Feedback und Prozessdatenanalysen werden auch weiterhin ein wichtiger Teil der Forschung in meiner Gruppe bleiben. Darüber hinaus ist viel Neues im Aufbau, das die Agenda erweitert und vertieft.
Ein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt, ist die Arbeit zum „Conversation-Based Assessment“. Die Idee dahinter ist, dass wir basierend auf künstlicher Intelligenz ein neues Szenario für die Bearbeitung von Testaufgaben kreieren können, das stärker an einem natürlichen Austausch und Gespräch zwischen Lehrendem und Lernenden orientiert ist. Diese Form der natürlichen Abfrage des Verständnisses von wichtigen Sachverhalten bietet aus meiner Sicht besonderes Potenzial für motivationsförderliche Tests, die als Basis für adaptives Lehren und Lernen dienen können.
Ein weiterer Schwerpunkt wird auf der Erforschung neuer Konzepte für adaptives Unterrichten mit digitalen Medien und die Rolle der Lehrpersonen in diesem Zusammenhang liegen. Im Rahmen der Professur ist auch die Einrichtung eines neuen „Digital Teaching Lab“ an der EUF geplant, das großes Potenzial für innovative Forschung und Lehre verspricht. Dabei sollen unter anderem Studierende im Lehramt an der EUF in die Forschung eingebunden werden und die Arbeit mit digitalen Medien praxisnah und fachbezogen erkunden können. Basierend auf theoretischen und empirischen Erkenntnissen sollen sie Ideen und Kompetenzen für den eigenen Unterricht entwickeln und selbst zur Forschung beitragen.
Die Professur ist am IPN sowie an der Europa-Universität-Flensburg angesiedelt. Wie kam es dazu und welche Synergien ergeben sich Ihrer Meinung nach daraus?
Bei der Professur handelt es sich um eine gemeinsame Berufung durch die EUF und das IPN. Diese Zusammenarbeit ergibt sich durch die Förderung der Professur durch das Land Schleswig-Holstein und den damit verbundenen Wunsch, die Institutionen in Kiel und Flensburg noch stärker zu verbinden und im Rahmen der Professur weitere Kooperationsmöglichkeiten auszuloten.
Für mich persönlich treffen hier zwei Welten aufeinander – das mir sehr gut bekannte Leibniz Forschungsinstitut und das neue universitäre Umfeld der EUF. Damit gehen unterschiedliche Perspektiven, Erwartungen und Forschungstraditionen einher. Durch meine langjährige Arbeit am IPN habe ich bereits enge Verbindungen zu vielen Kolleginnen und Kollegen dort und freue mich jetzt darauf auch das Kollegium an der EUF und ihre Forschung besser kennenzulernen.
Besonderes Potenzial liegt aus meiner Sicht in der Verbindung der Fachdidaktiken der EUF und des IPN im Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung. Ganz explizit sehe ich insbesondere auch die Breite der „nicht-MINT“ Fachdidaktiken an der EUF als große Chance, digitale Bildung aus einer umfassenden fachlichen Perspektive zu betrachten. Insgesamt hoffe ich in den nächsten Jahren neue Wege der Kooperation zu beschreiten, Synergien zu schaffen und gemeinsam interdisziplinäre Projekte zur digitalen Bildung anzustoßen.
Die doppelte institutionelle Anbindung verspricht in jedem Fall eine direkte Verknüpfung von Forschung und Lehre und bietet mir und meinem Team besondere Gestaltungsmöglichkeiten, die sich durch die komplementären Strukturen der EUF und dem IPN ergeben. Ich bin sicher, die Arbeitsgruppe wird sich zu einer starken Einheit entwickeln und gemeinsam erfolgreich standortübergreifend arbeiten.
Sie kommen ja nach etwa eineinhalb Jahren in Tübingen beruflich zurück in den Norden. Worauf freuen Sie sich?
Ich freue mich sehr nach einer bereichernden Zeit in Tübingen mit viel Input und tollen Verbindungen in den Norden zurückzukehren und in dieser Position ein langfristiges Forschungsprogramm aufbauen zu dürfen. Das geht natürlich nicht ohne ein starkes Team, das ich aktuell zusammenstelle und auf das ich mich ebenfalls sehr freue. Gleichzeitig bin ich dankbar für die exzellenten Rahmenbedingungen, die diese Professur bietet. Ich bin motiviert neue Wege der Zusammenarbeit zwischen der EUF und dem IPN zu erkunden und gespannt, was sich aus dieser Verbindung ergibt.
Nicht zuletzt freue ich mich als geborene Flensburgerin immer auch über Menschen, die mich völlig selbstverständlich mit „Moin“ begrüßen, gemäßigte Sommer am Meer mit „steifer Brise“, Familie und Freunde im näheren Umkreis sowie tolle Kolleginnen und Kollegen in Kiel und Flensburg und viele spannende neue Projekte.